AWO Servicehaus am Wohld in Kiel : Sophia Reimer ist Altenpflegehelferin und gehörlos (Artikel der SHZ 01.01.2020)

2. January 2020

AWO Servicehaus am Wohld in Kiel : Sophia Reimer ist Altenpflegehelferin und gehörlos

Ihre Muttersprache ist die Gebärdensprache – in der Altenpflege kann Sophia Reimer ihre Stärken besonders gut einsetzen.

Margret Kiosz von Margret Kiosz
01. Januar 2020, 15:00 Uhr

Kiel | In Deutschland leben rund 80.000 Gehörlose. Eine von ihnen ist die 24-jährige Sophia Reimer, die seit einem Jahr im AWO Servicehaus am Wohld in Kiel eine Wohngruppe mit Demenzpatienten betreut. In der bundesweit einzigen Gehörlosenfachschule in Rendsburg wurde sie in einem einjährigen Kurs zur Altenpflegehelferin ausgebildet.

Im Interview mit Margret Kiosz berichtet sie über ihre Arbeit als Gehörlose in der Pflege.

Frau Reimers, ich habe noch nie ein Interview mit jemandem geführt, der nicht hören kann. Merken Sie mir meine Unsicherheit an?

Ein wenig. Aber ich kann recht gut von den Lippen ablesen, und was ich nicht verstehe, machen wir mit Block und Bleistift. Leider hat der Gebärdendolmetscher abgesagt, damit geht es am besten. Gebärdensprache ist nämlich meine Muttersprache. So hat sich meine Mutter mit mir unterhalten, die war auch gehörlos.

Das ist eher selten, denn Gehörlosigkeit ist nur zu 15 Prozent ererbt, in den meisten Fällen ist sie erworben: etwa durch Virusinfektionen im Mutterleib, Sauerstoffmangel bei der Geburt, spätere Masern- oder Mumps-Erkrankungen.

War 2019 für Sie ein besonderes Jahr?
Auf jeden Fall. Es gab zwei Dinge, über die ich mich besonders gefreut habe. Seit einigen Monaten macht eine andere Gehörlose hier im Haus ein Praktikum. Mit ihr verstehe ich mich gut, sie ist meine beste Freundin geworden, und mit ihr kann ich mich prima unterhalten.

Und das zweite Highlight?
Wir haben einen Altenpflegepreis bekommen. Die Jury fand es toll, dass mein Arbeitgeber den Mut hatte, sich auf ein Experiment mit jemandem einzulassen, der nichts hört. In der Laudatio wurde die solidarische Unternehmenskultur gelobt. Davon profitiere ich tüchtig.

Mit dem Preisgeld von 1000 Euro will die AWO einen Computer anschaffen, der Gesprochenes als Text-Datei auf ein Smartphone schickt.

War es schwierig, eine Stelle zu finden?
Nein, nicht wirklich. Ich habe hier im Haus ein Praktikum gemacht, anschließend einen befristeten Vertrag bekommen und habe jetzt seit fast einem Jahr einen unbefristeten Vertrag.

Warum ausgerechnet Altenpflege? Was reizt Sie an der Arbeit mit Senioren?
Hier kann ich meine Stärken einsetzen, ihre Körpersprache genau beobachten, ihre Mimik und ihre Gestik analysieren. Diejenigen, die sich für den Pflegeberuf entschieden haben, machen ihn gern und gut, denn ihre Augen sind super geschult von Kindheit an. Gehörlose sind konzentrierter als Hörende.

Aber Altenpflege ist ein Beruf, der besonders auf Kommunikation beruht …
Ich kann gut mit den Hausbewohnern kommunizieren. Ich sehe, wenn sie anders gehen, wenn sie Schmerzen haben oder sie etwas bedrückt. Und ich kann sie darauf ansprechen.

Wie geht dass, zeigen Sie mal.

„Danke“

„Danke.“
Marcus Dewanger
„Danke.“

„Ich komme wieder.“

„Ich komme wieder.“
Marcus Dewanger
„Ich komme wieder“ heißt diese Geste. Auch Sophia Reimers Mutter war gehörlos.

„Kopfschmerzen“

„Kopfschmerzen?“ Fotos: Marcus Dewanger
Marcus Dewanger
„Kopfschmerzen?“ Fotos: Marcus Dewanger

Allgemein loben Kollegen die sensible Beobachtungsgabe von Sophia Reimer, die es ihr ermöglicht, Bedürfnisse schnell und gezielt wahrzunehmen. Besonders für eher zurückgezogene Senioren sei das ein wertvoller Zugewinn und ermögliche einen schnellen und vertrauten Zugang. Das Projekt zeige, dass es gelingen könne und Schwächen durch Stärken kompensiert werden. Zudem kommt gehörlosen Pflegekräften bei der Arbeit die interkulturelle Kompetenz zugute. Man sucht nach neuen Verständigungsformen und setzt nicht mehr voraus, dass jeder jeden automatisch versteht.

Wie läuft die Zusammenarbeit mit den Kollegen?
Anfangs war es ein bisschen schwierig, weil sie ja noch nicht mit Gehörlosen zusammengearbeitet haben. Aber es wird immer besser. Meine Kollegen haben viel gelernt und ich viel von ihnen. Die Verständigung erfolgt über schriftliche Notizen, Lippenlesen oder über Zeichensprache.

Sie können ja nicht hören, wenn hinter Ihnen jemand stürzt, wie funktioniert das im Notfall?
In der Wohngemeinschaft arbeite ich in der Regel mit einem anderen Mitarbeiter zusammen. Wenn ich mal alleine bin, schicke ich eine SMS.

Sophia Reimer arbeitet in einer privaten Wohnung. Neun an Demenz erkrankte Menschen, vertreten durch ihre Angehörigen, haben eine Wohngemeinschaft gegründet. Die WG wird vom ambulanten Pflegedienst der AWO begleitet. Sophia Reimer ist in diesem Pflegeteam als Pflegeassistentin dabei.

Und nun die obligatorische Frage zum Jahreswechsel: Was wünschen Sie sich für 2020?
Dass noch mehr Gehörlose eingestellt werden und noch einige Mitarbeiter hier im Haus einen Gebärdensprachkurs machen.

Und Ihre beruflichen Ziele?
Ich möchte mich noch weiter qualifizieren, wenn möglich zur Altenpflegerin.

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Quelle: https://www.shz.de/regionales/kiel/sophia-reimer-ist-altenpflegehelferin-und-gehoerlos-id26851462.html