„Ich habe das Leben nie in Frage gestellt“

27. October 2016

„’Lache, wenn es zum Heulen nicht reicht!’ Dieser Spruch hat mich durch mein Leben begleitet“, sagt Anne-Marie Greve. Wer bei diesem Leitsatz meint, eine unverbesserliche Optimistin vor sich zu haben: Weit gefehlt! Die Hundertjährige, geboren im Juni 1916 in Heikendorf bei Kiel, ist vor allem eines: realistisch. „Mein Leben war zur Hälfte gut und zur Hälfte schlecht“, sagt die Frau mit den wachen Augen, die nur noch durch eine Nebelwand blicken kann: Makula-Degeneration, eingeschränktes Hörvermögen, Probleme mit den Knien – Gebrechen des Alters, mit denen Frau Greve lebt.

Vor gut einem Jahr jedoch haben sie diese Einschränkungen zu der Entscheidung bewegt, aus ihrem Haus in Heikendorf in das AWO Servicehaus Wellingdorf in Kiel zu ziehen. „Ich wollte hier nicht so lange bleiben und habe nur kleine Erinnerungen, wenig Persönliches, einige Fotos mitgenommen“, sagt Frau Greve. Doch dann stellte sie fest: „Es gibt Dinge, die ich noch erleben will.“ Ob sie am Leben festhält? „Vielleicht innerlich“, sagt sie nachdenklich.

Dieser "Leitspruch" hat Anne-Marie Greve durch ihr Leben begleitet

Dieser “Leitspruch” hat Anne-Marie Greve durch ihr Leben begleitet

Ein Teil der guten Hälfte

Dieses Leben begann 1916 in Heikendorf, wo Anne-Marie Greve im Juni zur Welt kam. Kindheit und Jugend beschreibt sie als glücklich und die acht Jahre Schulzeit als unbeschwerte Zeit der Freundschaften und des gemeinsamen Wetteiferns beim Handballspielen auf dem Acker. Ihre Lehre im Büro, die sie nach der Schule beginnt, kann sie nicht abschließen, die Firma geht Pleite. Sie wechselt das Fach und geht in einen Privathaushalt, um Hauswirtschaft zu lernen.
Die anschließende Arbeit bringt wechselnde Anstellungen und einen ersten Ortswechsel mit sich: Um bei einer Familie in Hamburg zu arbeiten verlässt Anne Marie Greve Kiel zeitweise. Es ist ein Aufenthalt mit Familienanschluss, den sie in sehr positiver Erinnerung hat. Doch schon 1937, mit 21 Jahren, kehrt Anne-Marie Greve nach Heikendorf zurück und fährt fortan mit dem Dampfer zur Schule am Westufer. Sie lernt „Steno“ und bekommt eine Anstellung bei der Marine im Bekleidungsamt. In der Kaserne lernt sie ihren Mann kennen, ihre einzige Liebe. Sie ist 24 Jahre alt und glücklich, als sie beide 1940 heiraten.

Ein Teil der schlechten Hälfte

Doch über das Jahr ihrer Hochzeit sagt Frau Greve auch: „Da waren die Zeiten schon mulmig“. Und die mulmige Zeit wird eine schreckliche für die frisch vermählte Frau: Ihr Mann wird eingezogen und kehrt nie wieder zurück. Schließlich sterben auch ihre Schwiegermutter und ihr Bruder im Krieg und Anne-Marie Greve verlässt, nachdem sie zweimal ausgebomt wurde, Heikendorf mit ihrer Mutter. Ihre Tochter wird 1943 in Timmendorf als Halbwaise geboren, und die drei ziehen weiter nach Mecklenburg-Vorpommern zu Verwandten. „Es sind schlechte Jahre, aber wie schlecht, das lässt sich nicht aufschreiben“, sagt Anne Marie Greve: „Die Gefühle aus dem Krieg kann man nicht vermitteln, der Krieg ist nicht nachvollziehbar und ich, ich kann mein Leben nicht abschütteln.“

Und trotzdem“, sagt Anne Marie Greve, „ich habe das Leben nie in Frage gestellt“

Sie habe gelebt, wie sie es konnte. „Und irgendwie waren wir immer wir selber.“ Mit “wir” meint sie Freunde aus Schulzeiten und andere Menschen, mit deren Hilfe sie, zurück in Heikendorf, den Krieg und die Nachkriegszeit überstanden hat. „Auf dem Land musste man nicht verhungern, wenn man gearbeitet hat. Ich habe überall gearbeitet, habe Steine geschleppt, beim Schlachten und beim Bauern geholfen, ich habe genäht, gestrickt und gehäkelt, einfach alles“. Ihr starker Wille und die Tatsache, „nicht alles mit mir machen zu lassen und eigenwillig zu sein“, haben ihr die nötige Ausdauer gegeben.
Kraft und Ansporn hat Anne-Marie Greve aber auch über den Blick auf ihre persönlichen Vorbilder gewonnen, die ihren Charakter geprägt haben. Zum Beispiel ihre Mutter, die sie als anpackend, tüchtig und sehr liebevoll beschreibt. Und ihre Tante, von Beruf Diakonisse, für die das Helfen Lebensaufgabe war. Für sich selbst findet Anne-Marie Greve die folgenden Worten: „anpackend, immer positiv, gesellig und mittendrin“.

Mitten im Leben, fest verwurzelt

Mitten rein ins Leben ging es für Anne-Marie Greve nach dem Krieg nach und nach wieder. Eine Zeit, in der sie „immer gearbeitet und für die Rente gelebt“ hat. Gleichzeitig hat sie sich stets um die Menschen gesorgt, die ihr wichtig waren, hat ihre Tante und Mutter gepflegt. Doch auch Zeit für sich selbst hat sich Anne-Marie Greve genommen: Zeit für Reisen, Zeit ihre Freundschaften zu pflegen, Zeit für Theaterbesuche.
Und auch heute, im Servicehaus, ist sie dabei, wenn gesungen, geklönt oder gefeiert wird. Sie genießt Gesellschaft und Geselligkeit, und der Kontakt zur Tochter und zum Schwiegersohn ist eng. Da kam der 100. Geburtstag im Juni mit viel Besuch gerade recht.
Noch immer besucht die Hundertjährige gerne ihre ehemaligen Nachbarn und das alte Zuhause mit Garten in Heikendorf, wo inzwischen ihre Tochter und ihr Schwiegersohn leben. „Hier“, sagt Anne-Marie Greve, „bin ich verwurzelt“.