Wilhelm Böge liebt die Natur und den Blick aus dem Fenster, rausspringen will er aber nicht mehr. „In diesem Viertel bin ich geboren und habe gelebt. Hier will ich bleiben“, sagt er. Ein Ausbruch aus dem Altenheim, wie in dem diese Woche anlaufenden Kinofilm „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“, kommt für den einzigen Hundertjährigen in Neumünster daher nicht in Frage. „Dafür bin ich zu alt.“ Im Servicehaus am Wasserturm fühlt sich Wilhelm Böge sichtlich wohl.
Seit 2011 hat der ehemalige Eisenbahner aus Tungendorf ein Zimmer in der Einrichtung der Arbeiterwohlfahrt (Awo). Als pensionierter Beamter legt er nach wie vor viel Wert auf Pünktlichkeit und eine geregelte Tagesstruktur. Nach dem Frühstück und einem kleinen Vormittagsschläfchen wandert der leidenschaftliche Sänger – er war über 50 Jahre im Eisenbahn-Männerchor – regelmäßig ein paar Flure weiter zu seiner Frau Elfriede.
Die 96-Jährige hat im Servicehaus am Wasserturm ein eigenes kleines Apartment mit Kochzeile, einer hübschen Anrichte aus den 50er-Jahren und einem gemütlichen Sessel. Gerne nimmt Wilhelm dort Platz und lässt sich von seiner Elli aus dem Courier vorlesen. „Seit über siebzig Jahren lesen wir die Zeitung. Man muss ja auf dem Laufenden bleiben“, sagt Elfriede Böge. 1939 gab sie ihrem Wilhelm das Jawort, dieses Jahr feiert das Paar das seltene Ereignis der Kronjuwelen-Hochzeit. Beide sind Neumünsteraner, beide kommen aus Eisenbahnerfamilien. Wilhelm arbeitete nach dem Krieg bis zu seiner Pensonierung im Ausbesserungswerk an der Kieler Straße. Kennen lernten sich beide über einen Schwager von Elfriede. „Er war damals zu Besuch und ich sagte zu meiner Mutter: Ich will den oder keinen“, beschreibt sie ihre Liebe auf den ersten Blick.
Natürlich ist sie auch heute noch für ihren Wilhelm, den sie liebevoll „Fridolin“ nennt, da. Doch anders als ihr Mann könnte sich Elfriede Böge einen Ausflug aus dem Alltagsleben durchaus vorstellen. „Ach, ich würde gerne noch mal verreisen. Ich bin noch nie geflogen“, seufzt sie. Zur Silberhochzeit fuhr das Paar mal nach Frankreich, besuchte die Stellen, an denen er im Krieg seinen Dienst absolvierte. „Das war sehr schön“, erinnert sich die rüstige Rentnerin. Auch zur einzigen Tochter und der Enkeltochter fährt Elfriede Böge heute oft alleine. „Es ist einfach zu anstrengend für ihn“, sagt sie.
Wilhelm Böge ist einer von 20 Bewohnern bei der Awo Pflege in Schleswig-Holstein, die 100 Jahre oder älter sind. Derzeit sammelt die Awo die Lebensgeschichten dieser Hochbetagten. „Sie haben viel zu erzählen und man kann viel von ihnen lernen. Es sind Zeitzeugen von Ereignissen, die heute schon fast vergessen sind“, sagt Heidi Enders von der sozialen Betreuung im Servicehaus am Wasserturm. Die Awo will mit ihrem Projekt auf den demografischen Wandel und eine immer älter, aber auch im Alter immer mobiler werdende Bevölkerung aufmerksam machen. In Neumünster leben derzeit nach Auskunft des Einwohnermeldeamtes 14 Personen zwischen 100 und 103 Jahren, Wilhelm Böge ist darunter der einzige Mann.
Der im Vorfeld viel gelobte Film „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster sprang und verschwand“ läuft übrigens morgen bundesweit im Kino an, allerdings nicht im Cineplex am Kuhberg. Gezeigt wird er aber im Cinemaxx in Kiel und Hamburg sowie im Cineplex in Elmshorn.
Text und Foto Christian Lipovsek | Holsteinischer Courier vom 19.03.2014